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Das geistliche Wort: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen 16, 13)


23. Juli 2020

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen 16, 13)
In diesem Jahr ist alles anders: Ostern zu Hause und die Osterbotschaft mit bunter Kreide auf Fußwegen und Straßen, Konfirmation im Herbst – dafür wartet der Sommerurlaub auf Balkonien. Vieles wurde umorganisiert und so manches entfiel ganz. Dafür erscheint der Himmel blauer, die Bäume grüner, das Vogelgezwitscher lauter, ja auch das Summen der Insekten ist vielstimmiger. Die Natur scheint aufzuatmen, wenn wir Menschen unseren ungebremsten Lauf und unsere unbändige Reiselust zurückschrauben müssen.
Doch anderes wird erst auf dem zweiten oder dritten Blick deutlich: Die viel benannte Krise ist für manche mehr als die aufgeschobene Urlaubsreise, geht tiefer als einige Wochen eingeschränkter
sozialer Nähe, ist existenziell bedrohlicher als Arbeiten im Homeoffice. Es sind diese Geschichten, die erst jetzt erzählt werden. Die Gesichter werden erst jetzt sichtbar, manche bleiben ganz im Dunkeln. Wer sieht diese Menschen, ihre Sorgen, ihre Sehnsucht?
Diese Frage führt mich zu einer Geschichte am Anfang der Bibel. Wir finden sie in Gen 16 und sie führt uns das Schicksal einer Frau vor Augen, deren Geschichte für die Menschheit bedeutsam wurde: Hagar – eine Magd, eine Sklavin, rechtlos und ausgeliefert. Ihr Gesicht und ihr Name wären im Dunkel der Geschichte verschwunden, wenn nicht Gott sie gesehen hätte. Doch zunächst wird sie von Sara dazu bestimmt, ihrer Kinderlosigkeit abzuhelfen. Sie wurde zu einer Leihmutter für Abraham und Sara. Aus Sehnsucht wird Neid, aus der Sklavin wird eine Konkurrentin, die beseitigt werden soll. Hagar flieht in die Wüste und in die Einsamkeit.
In der Wüste haben Selbstverständlichkeiten keinen Platz, ist das Lebensfeindliche Normalität. Wüstenzeiten berauben uns unserer Sicherheit, unserer Nahrungsquellen und jeglicher Wegmarkierung.
Doch die lebensbedrohliche Wüste schafft Raum für Gottesbegegnung. Hagar begegnet einem Engel. Und dieser Engel fragt nach ihr. Er versichert ihr, dass sie nicht verloren ist und er gibt ihr Wegweisung. Es gehört nicht übermenschlich viel dazu, einem Menschen das Gefühl und die Sicherheit zu geben, dass er gesehen und beachtet wird. Der lebensfeindliche Ort wird zum Ort der Gottesbegegnung und zum Ort eines neuen Anfangs. Hagar kann wieder aufstehen und sich selbst neu wahrnehmen als Frau, die von Gott gesehen wird, die vor ihm bedeutsam ist. Für Hagar wird sich ihr Schicksal nicht ändern, sie bleibt ihrer Herrin ausgeliefert, kann den Umständen nicht entfliehen. Doch sie bekommt die Kraft, das auszuhalten. Menschen können viel ertragen, wenn ihnen Wertschätzung widerfährt. Wo sie gesehen werden, entspringt eine Quelle, wird Durst gestillt.
Es wächst die Kraft, aufzustehen und weiter zu gehen.
Keine Frau, kein Mann, kein Kind darf erleiden, dass sie ungesehen und ungeachtet verschwinden. Jeder Mensch soll mindestens einmal sagen können: „Gott ist ein Gott, der mich sieht, und das habe ich erfahren.“ Das kann durch einen Blick geschehen, ein Wort, ein Zeichen der Achtsamkeit und der Wertschätzung, die Vermittlung von Sicherheit und Geborgenheit. Das sind Quellen, aus denen wir schöpfen und die wir für andere bedeutsam werden lassen. Nach dem Sommer wird es für uns alle weitergehen. Wohin uns die Wege auch führen, auch für uns gilt: Gott ist ein Gott, der uns sieht.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien eine gesegnete Sommerzeit!
Ulrike Weyer, Superintendentin